Eigenverantwortung im Home Office

Covid-19 hat unsere Zusammenarbeit deutlich verändert – wir arbeiten auf Distanz zusammen.

Unterstützt durch Videokonferenzen, Online-Whiteboards, Filesharing-Systeme und andere digitale Hilfsmittel gehen wir unseren Tätigkeiten nach. Dabei haben wir die Erfahrung gemacht, dass dies ausreichend bis erstaunlich gut möglich ist. Und gehen wir davon aus, dass uns das Arbeiten mit Headset und Videokamera noch eine ganze Zeit lang begleiten wird. 

Teamwork, ohne das Büro zu teilen, ohne die zufälligen Begegnungen auf dem Flur oder am Kaffeeautomaten, nimmt uns einen wichtigen Teil der alltäglichen Interaktion und Kommunikation. Es verunmöglicht Führung im Sinne der anwesenden Führungskraft, die hier und da einen Blick über die Schulter der Mitarbeiter wirft, mit Rat und Tat zur Seite steht und sich einen eigenen Eindruck vom Tun des Teams verschafft. Für Führungskräfte und Mitarbeiter öffnet die aktuelle Arbeitssituation einen neuen Raum für Führung, der nicht selten zunächst ein Vakuum ist und gefüllt werden will. 

Dies rückt ein Thema in den Fokus, das in den vergangenen Jahren zunehmend mehr an Bedeutung gewonnen hat: das eigenverantwortliche Arbeiten von Mitarbeiterinnen und Teams. Unternehmen, die sich mit agilen Rahmenwerken und Methoden beschäftigen, haben vieles ausprobiert und ihre Erfahrungen mit einem Mehr an Selbstorganisation gemacht. Doch auch abseits der organisationalen Moderne sind diese Bestrebungen sinnvoll. 

Die zunehmende Komplexität unserer Welt macht es notwendig, gemeinsam in co-kreativen Prozessen innovativ zu werden und neue Lösungen zu finden. Dieser Modus bedarf eines neuen Konzepts von Führung. Die Vorstellung, dass die Führungskraft zu jeder Zeit eine passende Antwort parat hat und die Richtung vorgibt ist überholt. Vielleicht nicht überall, sicher gibt es noch Nischen der Stabilität, Tätigkeiten mit einem hohen Routinegehalt, in denen „command und control“ einen funktionierenden und verlässlichen Rahmen bietet. Doch die Tendenz geht klar Richtung Wissensarbeit. Robotik, Automatisierung und Künstliche Intelligenz nehmen uns mehr und mehr Routinetätigkeiten ab. 

So ist es erfreulich, dass die Forderung nach mehr eigenverantwortlichem Agieren häufig großen Zuspruch erfährt – sowohl bei Führungskräften, als auch bei Mitarbeiterinnen. Die jeweilige Vorstellung davon hat einen gewissen Reiz und wirkt attraktiv auf beide Zielgruppen. Die Umsetzung gestaltet sich freilich schwierig. Beim genauen Hinsehen zeigt sich nämlich, dass der Begriff der Eigenverantwortung von Führungskräften und Mitarbeitern unterschiedlich interpretiert wird. 

Wenn Führungskräfte von mehr Eigenverantwortung bei ihren Mitarbeitern sprechen, erwarten sie, dass diese ihre Aufgaben eigenständig erfüllen. Und zwar genau so, wie sich die Führungskraft dies vorstellt: sowohl im Ergebnis, als auch im Vorgehen. Und bitte ohne anstrengendes Nachfragen. Im Idealfall in der Art, dass beim Auftreten von Problemen selbstständig Lösungen gefunden und umgesetzt werden. Ein wenig Innovation nebenbei wäre auch nicht schlecht. 

Mitarbeiterinnen und Teams erhoffen sich mehr Freiraum und Gestaltungsspielraum. Eine klare Rahmensetzung zu Zielen, Erwartungen und den Ressourcen, über die sie verfügen können; bei Bedarf Feedback und Unterstützung. Und sie wünschen sich eine angemessene Rückendeckung, für den Fall, dass das von ihnen gewählte Vorgehen nicht gleich auf Anhieb funktioniert, oder nicht ganz den Effizienzkriterien des Unternehmens entspricht. 

Sicher, die Darstellung der beiden Perspektiven ist plakativ und es mag andere Betrachtungen geben. Doch sie zeigt, dass der Begriff des eigenverantwortlichen Arbeitens nicht trivial ist und einer Konkretisierung bedarf, damit alle Beteiligten eine gemeinsame Vorstellung davon haben, was genau unter mehr Eigenverantwortung verstanden wird. Nur dann besteht eine Chance, dieser Herausforderung erfolgreich zu begegnen. 

Dies gilt nicht zuletzt, weil wir es auch bei diesem Bemühen mit dem wirkmächtigen Thema Unternehmenskultur zu tun bekommen. In vielen Fällen ist das System nämlich nicht darauf aus, mehr Eigenverantwortung zuzulassen. Denn damit sind einige Risiken verbunden oder zumindest Entwicklungen möglich, die die Stabilität gefährden – je nach Branche oder Funktionsbereich einmal mehr oder weniger. 

Mehr Eigenverantwortung bedeutet für die Führungskraft, Kontrolle abzugeben und zu vertrauen. Ohne das kann es nicht funktionieren. Verantwortung und Vertrauen sind wie zwei Seiten einer Medaille. Nur wenn ich meiner Mitarbeiterin vertraue, kann ich als Führungskraft mit einem guten Gefühl mehr Verantwortung übertragen. Genauso muss ich als Mitarbeiter meiner Führungskraft vertrauen, damit ich bereit bin, ein mehr an Verantwortung zu übernehmen. Es braucht einen sicheren Rahmen, damit sich Teammitglieder trauen. 

Die Schärfung des Begriffs ist also wichtig, ein gemeinsames Verständnis und damit Klarheit darüber, was die jeweiligen Erwartungen sind. Es braucht aber auch eine vertrauensvolle Atmosphäre in der Zusammenarbeit, damit sich Mitarbeiter trauen, eigenverantwortlich zu agieren und nicht durch entmutigende Reaktionen bzw. Äußerungen frustriert werden.

Alles in allem ist dies eine herausfordernde Aufgabe für alle Beteiligten, die sich nicht von selbst erledigt. Sie muss aktiv angegangen und gemeinsam gestaltet werden. Etwas, das Zeit und Energie benötigt. Vor dem Hintergrund der vielerorts angespannten Ressourcenauslastung liest sich das nicht ohne Stirnrunzeln. Doch ist es nicht eine lohnende Investition über die aktuelle Arbeitssituation hinaus, eine Investition in die Arbeitswelt von morgen?